Erstmals vorgetragen am 14.12.23 bei der Lesung der Stadtbibliothek Freital
Um zehn Uhr vormittags schleppte sich Wanda verlässlich zur Stereoanlage. Die knackenden Geräusche der Heizung gingen ebenso hinter dem Popsong unter wie das Knacken ihrer eigenen Gelenke. Sie drehte die Musik so laut auf, dass sie Tote hätte wecken können. Zumindest ihre morgenmuffeligen pensionierten Nachbarn.
Es dauerte eine halbe Liedlänge, bis die Schwere und die Zipperlein ihres Körpers nachließen und sie zur Musik wippend zum Fenster lief. Aus einem Spalt der Vorhänge lugte sie hinaus in ihre Straße. Matschige Schneeklumpen sammelten sich am Straßenrand. Die Weihnachtsdekoration an den Lampen tropfte vom nächtlichen Schauer. Wenigstens der schrille Weihnachtsstern der Nachbarn von Gegenüber leuchtete noch und brachte etwas Farbe in all das Grau.
Das gegen die Wand klopfen aus der Nachbarwohnung ließ Wanda lächeln. Sie steppte zur Stereoanlage und senkte die Lautstärke auf ein erträgliches Maß. Gerade leise genug, um einer Abmahnung zu entgehen. Ihre Nachbarn durften Wandas Anwesenheit nämlich auf keinen Fall vergessen.
Wanda riss die Arme hoch und putzte tanzend ihr kleines Reich. Am Nachmittag entschied sie, ihren Fleiß zu belohnen, und öffnete die unterste Schublade der Kommode.
Wo ihre Lieblingskekse sein sollten, befanden sich leere Verpackungen und ein Zettel:
»He Wanda, altes Haus. Wird Zeit, dass du über deinen Schatten springst. Da du nie auf uns hörst, mussten wir leckere Maßnahmen ergreifen«, stand dort geschrieben. »Wir glauben an dich!«
Wandas Lesezirkel hatte ihren Vorrat gefunden und mit voller Absicht vertilgt! Und anstatt wie Erwachsene zu unterschreiben, hatte jeder der acht ein kleines Bildchen gezeichnet.
»Diese undankbaren Biester«, murrte sie. Die Kekse waren ihre einzige Freude zur Weihnachtszeit! Kekse und das Leuchten von Lichterketten.
Wandas Finger trommeln auf das Holz. Ihr Kopf ruckte hoch zum Kalender. 22. Dezember. Sie griff sich an die Brust und lehnte sich gegen die Kommode. Ihr Herz pochte heftig unter ihrer Hand. Keine Kekse waren keine Option! Nicht, wenn es das Einzige war, das ihr in der Isolation bis Neujahr Freude bereitete. Wenn sie ihre Kekse besorgen wollte, musste sie sich beeilen, bevor der Fluch von ihr Besitz ergriff!
Sie wartete bis kurz vor der Dämmerung und plante ihren Weg gründlich. Wanda lief Umwege, um zum Center zu gelangen – immer auf den am stärksten besuchten Straßen und Abschnitten der Fußgängerzonen entlang. Trotz Kälte trug sie keine Mütze, die ihr langes Haar verdeckte. Dafür einen durchsichtigen Regenschirm, in dem sie eine Micro-Lichterkette zwischen die Speichen gebastelt hatte.
Sie wollte gesehen werden.
Musste gesehen werden!
Wanda beeilte sich, bemüht, nicht auf die Weihnachtsbuden in der Nähe des Centers zu achten. Sie vermisste das Gefühl, sich von der Musik einlullen zu lassen, zwischen den Ständen umherzuflanieren und bei den gebrannten Mandeln schwach zu werden.
Sie betrat das Kaufhaus, in dem aus allen Ecken Weihnachtsmusik erklang. Schnell, schnell steuerte Wanda die Süßwarenabteilung an und griff sich so viele Packungen ihrer Lieblingskekse, wie in ihren Beutel passten. Elf! Nur für den Fall, dass ihr Lesezirkel unangemeldet einfiel.
Die Musik setzte ihr zu. Machte sie langsamer. Sie musste sich mehr konzentrieren. Und die Packungen ... lagen unhandlich in der Tasche. Die Ecken drückten gegen ihre Hüfte. Sie hatte keine Nerven sie sorgfältiger zu stapeln. Keine Zeit. Und so stieg sie zu dem schwer beladenen Geschäftsmann in den Fahrstuhl, anstatt die Treppen zu nehmen.
Gerade als sich die Tür schloss, schoben sich kleine Finger dazwischen. Zwei Kinder mit ihrer Mutter.
Kinder.
Zwei davon.
Ausgerechnet jetzt!
Wanda atmete tief durch und starrte an die Decke des Fahrstuhls. Nur ein paar Sekunden. Gemeinsam mit Fremden. Das würde schon werden, dachte sie.
In diesem Moment ruckte der Fahrstuhl. Nichts ging mehr. Weder hoch noch runter. Wanda drängte sich an dem Geschäftsmann vorbei und drückte energisch die Notfallklingel. Mehrmals. Zeitgleich stellte die Mutter ihre Einkäufe ab und rief die Feuerwehr. Sie versicherte ihren Kindern, dass sofort jemand kommen würde. Es war ein kleines Abenteuer am Abend, dass sie morgen ihren Freunden erzählen könnten.
»Abenteuer!«, brüllten die Kinder und sprangen auf der Stelle.
Der Fahrstuhl wippte.
Wanda klammerte sich an den Handgriff und unterdrückte einen Schrei. – Der rutschte den Kindern heraus, als das Deckenlicht flackerte. Schreckensstarr drückte sich jeder von ihnen an ein Bein der Mutter. So blass, wie sie aussah, kämpfte sie mit ihren eigenen Problemen: Die Gefangenschaft in einer nachwippenden Blechbüchse.
»Was für schwere Einkäufe haben euch in den Fahrstuhl geführt?«, fragte der Mann die Kinder. Er warf der Mutter einen Blick zu, die dankbar nickte und ging vor den Kleinen in die Hocke. Aus seiner Tasche zog er ein langes Schmuckschächtelchen. »Ich hab das für meine Freundin gekauft.«
Wanda stand hinter ihm. Sie sah nur die Gesichter der Kleinen. Ihre Münder, die sie sich zu einem entzückten O öffneten.
»Das bekommt sie zu Weihnachten«, fügte der Mann an.
»So lieb war sie?«, fragte das eine Kind und legte den Kopf in den Nacken. »Mama? Ich war doch auch lieb dieses Jahr ...«
Der Mann lachte leise. »Das ist eher etwas für Größere. Mit Schmuck darf man nicht spielen.«
Das Kind zog eine Schnute. Das andere jedoch ... »Wieso schenkst du deiner Freundin etwas zu Weihnachten? Das macht doch der Weihnachtsmann!«
Wanda schluckte laut, während der Mann erklärte, dass der Weihnachtsmann manchmal Hilfe brauchte. »Gibt ja ganz schön viele Kinder, nicht?«, fragte er.
»Ja«, hauchte das Kleinere mit absoluter Ehrfurcht. »Meine ganze Kita ist voll mit denen!«
»Was spielt ihr denn mit den anderen Kindern?«, warf Wanda ein. Ihre Stimme klang etwas schrill. Schrill und verzweifelt. Sie musste die Kinder vom Thema Weihnachten ablenken. Sofort.
»Rentier und Weihnachtsmann.«
»Aha«, machte Wanda. »Und sonst so?«
»Üben wir Weihnachtsgedichte«, murmelte das eine Kind.
»Aber wir wollen uns die nicht merken«, erklärte das andere. »Der Weihnachtsmann kam noch nie zu uns nach Hause, um was zu hören.«
Wanda kratzte sich am Bauch. Die Hose begann zu kneifen. »Und was«, sie suchte hilflos nach einer Eingebung, »Was schaut ihr im Fernsehen?« Kinder liebten Fernsehen!
»Die Sendung mit dem Weihnachtsmann und seinen Elfen«, erklang es prompt.
»Hmhm.« Wanda wischte sich über die feuchte Stirn.
»Versucht doch eines eurer Weihnachtsgedichte vorzutragen«, schlug die Mutter vor. »Wir haben Zeit.« Ihr Lächeln war aufgesetzt. Sie war ebenso blass wie Wanda, die sich abwandte.
Voller Konzentration begannen die Kinder mit: »Lieber guter Weihnachtsmann, fass nicht meine Kekse an.«
Wanda presste die Hände auf die Ohren. In ihrem Gesicht kitzelte es. Nur schwer unterdrückte sie das Niesen, als die Haare unter ihrer Nase wuchsen. Ihr Bauch drückte energisch gegen den Hosenbund. Und als sie nach oben zur spiegelnden Decke blickte, registrierte sie ihre weißen buschigen Augenbrauen.
Kekse! Sie hätte die Münder der Kinder mit ihren Keksen stopfen sollen!
Ein Keuchen entwich ihrer Kehle. Tief. Fast dröhnend.
Plötzlich stockten die Kleinen und starrten sie mit tellergroßen Augen an.
Wanda stand als Weihnachtsmann im Fahrstuhl. Mit rotem Mantel. Rute. Sack und ihrem Einkaufsbeutel voller Keksen.
»Nur ein Kostüm«, wollte sie beruhigend sagen. Was herauskam, war allerdings: »NUR EIN KOSTÜM. – UND STIMMENVERZERRER.«
Die Kinder schrien.
Die Erwachsenen brüllen.
Und Wanda-Weihnachtsmann war den Tränen nahe.
Darum hatte sie die letzten Jahre Weihnachten gemieden. Aus Angst vor solchen Situationen.
»BERUHIGT EUCH BITTE«, dröhnte Wanda und hob beschwichtigend die Hände.
Leider hielt sie dabei die Rute in der Hand.
An der Fahrstuhltür klopfte es energisch. Wanda glaubte »Feuerwehr« und »Ruhe Bewahren« und »Retten« zwischen den Schreien heraushören zu können. Erst als sie schweres Gerät ansetzten, verstummten die Kinder. Unverwandt sahen sie Wanda an wie ein Alien. Die Erwachsenen auch, aber mit dem Unterschied, dass man ihnen den Quatsch mit Kostüm und Stimmenverzerrer aufschwatzen konnte. Alles andere wäre ja der Wahnsinn. – Wenn auch, in dem Fall, die Wahrheit.
»Lieber Weihnachtsmann, komm nicht zu nahe ran«, versuchte es das ältere Kind verzweifelt und bemerkte den Fehler. »Wir müssen singen!«, fiepte es seinem Geschwisterchen zu.
»NEIN«, begehrte Wanda auf. Aber da schmetterten sie schon asynchron zwei völlig verschiedene Lieder, während die Feuerwehr an der Tür herumhantierte.
»Könnten Sie bitte ihr Kostüm entlüften?«, bat die Mutter mit blasser Nase und rückte weg. »Es nimmt recht viel Platz ein. – Und wenn ihr zwei schon etwas Singen wollt, dann einigt euch bitte!«
Das erstbeste Lied war eines mit Drachen.
Wanda quetschte sich in die Ecke des Fahrstuhls, damit die Mutter nicht zu hyperventilieren begann. Sie stieß mit dem Po an die Wand und erstarrte.
»Drachen, Drachen«, sangen die Kinder den Refrain.
An Wandas Steiß entstand eine Beule. Sie war dick und ... zuckte? Hektisch tastete sie danach und fühlte den wachsenden Drachenschwanz.
Nein, nein, nein, nein! Das ihr Körper zu Weihnachten eskalierte, war sie gewohnt. Das allerdings war neu! Nur weil die Kinder von Drachen sangen, konnte sie nicht einfach zu einem werden. Das. Durfte. Nicht. Sein! Erst recht nicht in einem Fahrstuhl und mit jemandem mit Platzangst.
Wanda erinnerte sich an den Weihnachtssack. Sie musste ihren Trumpf nutzen, bevor er verschwand. Sie stopfte ihren gesamten Arm hinein und den Kopf gleich hinterher. Da drin herrschte ein einziges Chaos! Mit ihrem Handrücken berührte sie kantige Dinge von monströser Größe. Doch in die Hand rutschten nur Kleinigkeiten. Sie musste nehmen, was sie in die Finger bekam. Und so zog sie zwei Tafeln Schokolade heraus und reichte sie den Kindern.
Diese verstummten und nahmen »Danke« murmelnd die Schokolade entgegen.
»Dankeschön. Aber nicht mehr um diese Uhrzeit!« Die Mutter kassierte die Süßigkeiten ein.
Bedröppelt senkten die Kinder die Köpfe. – Wanda bemerkte genau den Moment, indem sie stutzten. Sie folgte der Richtungen des Interesses. Hinab an ihrem Körper – sie musste sich nach vorn lehnen, am Bauch vorbei – und sah zwischen ihren Stiefeln ... Grün. Spitz zulaufend. Schuppig. Stachlig.
Einen richtigen, echten Drachenschwanz!
Der zuckte!
Die Kinder tauschten Blicke, bei denen es Wanda heißkalt den Rücken herunterlief. Sie musterten den Drachenschwanz, Wandas restliche Weihnachtsmannmontur, ihre Kekseinkäufe, die noch an die junge Frau erinnerten, die vor ihnen im Fahrstuhl war und ... einander.
Flehentlich schüttelte Wanda den Kopf und hielt den Weihnachtssack wie die Aussicht auf ein besonderes Geschenk zwischen ihnen.
...
»Drachen, Drachen!«, krähten sie mit neuem Elan.
Die Kinder wollten den Drachen sehen. Und Wandas Körper war nur allzu gern bereit, ihren Vorstellungen zu entsprechen.
»WEIHNACHTEN, HM?«, versuchte Wanda mit der Weihnachtsstimme Smalltalk anzuregen. »GESCHENKE. LICHTER. LECKEREIEN. WAS GIBT ES SCHÖNERES?«
»Drachen, Drachen!«
Wandas krampfhafte Versuche, die Gedanken aller auf Weihnachten zu fokussieren, schlugen kolossal fehl. Die Fantasie der Kinder war stärker als die der Erwachsenen.
»Drachen, Drachen!«
Ihr Rücken begann zu jucken, als ihr Flügel wuchsen. Der rote Mantel drückte an den Schultern. Die Nähte spannten. Und unter ihrem Bart ... Ihr Kiefer wuchs. Die Zähne wurden spitzer. Der Fahrstuhl schien zu schrumpfen.
Wanda versuchte den Feuerwehrleuten zuzubrüllen sich zu beeilen. Aus ihrem Hals kam ein Geräusch, das man nur mit reichlich gutem Willen als Magenknurren abtun konnte. Entschuldigend klopfte Wanda auf ihren Bauch und bemerkte ihre Krallen.
Ihr blieb keine andere Wahl, wenn sie nicht im Zirkus landen wollte. – Oder im Gefängnis, wenn sie ihre vier Mitgefangenen mit ihrem Körper zerquetschte.
Bevor sie Drachenpfoten bekommen konnte, zerrte sie ihr Handy aus der Tasche und wählte ihre Notfallplaylist:
Schlager!
Diese Musik wirkte wie ein Zauberelixier gegen übereifrige Fantasien.
Der gesamte Fahrstuhl vibrierte im Takt von Roland Kaiser.
Nur Sekunden später, drückten Feuerwehrleute die Fahrstuhltüren auf. Der Stolz, Menschen in Gefahr befreit zu haben, verpuffte, als eine alte Dame mit schrecklich lautem Schlagergedudel aus dem Fahrstuhl hechtete. Ohne Dank tauchte sie in der Menge der Schaulustigen unter.
Das war Wanda.
So schnell ihre Arthrose es zuließ, verließ sie das Einkaufszentrum. Sie ging dahin, wo viele Menschen waren: mitten auf den Weihnachtsmarkt. Zwischen einem Kerzenstand und Süßspeisen blieb sie stehen. Je mehr Menschen sie bei ihrem Bummel blockierte, desto mehr festigte sich ihre Form.
Wanda schloss die Augen, inhalierte tief die von Zucker, Glühpunsch und Räucherstäbchen geschwängerte Luft. Die Geschäftigkeit, die Gespräche der Standbesitzer und der Kunden, beruhigte ihr rasendes Herz ebenso wie die Lichterketten, die sich wie Perlen von einer Hütte zur Nächsten zogen. Eine Liveband spielte ein paar Reihen weiter eine Akustikversion ihres Lieblingsliedes. All diese Eindrücke schoben die matschig, nassgraue Stimmung der vergangenen Tage beiseite. Es verscheuchte sogar einen Großteil der Angst, die sie im Fahrstuhl durchleben musste.
Genau diese Atmosphäre, diese Düfte und Lichter, hatte Wanda die letzten drei Jahre bis tief in ihre Knochen vermisst. Seit sie ihre Kräfte besaß, igelte sie sich zuhause ein und mied Orte wie diesen. Und erst Recht alle, wo sich Kinder aufhielten!
Plötzlich schob sich ein kandierter Apfel in ihr Blickfeld.
»Für Sie«, sagte die junge Frau aus dem Süßspeisenstand, die sich halb über dem Tresen lehnte.
Es gab sie: die freundlichen Menschen, die Fremden ein Lächeln auf die Lippen zauberten.
Dankbar nickend nahm Wanda den Apfel am Stiel entgegen.
»Schönes Kostüm«, meinte die Verkäuferin und zog sich zurück.
Hektisch starrte Wanda an sich hinab und ließ die Arme sinken.
Wanda war der Weihnachtsmann.
Schon wieder!
Diesmal ohne es zu merken. – Sie alle waren mitgerissen vom Zauber der Weihnachtsstimmung und der kindlichen Fantasie, die in allem innewohnte.
Und so stand Wanda da: mit einem Zuckerapfel in der Hand, echten Zähnen im Mund, die fähig waren, diesen zu beißen und ihren Keksbeutel am Arm. Er kam ihr plötzlich leichter vor. Als wäre es Watte. Wanda ging in sich. Sie fühlte sich so ... stark wie nie.
Sie spürte das überraschte Lachen wie ein unaufhaltbares Niesen aufsteigen. Es dröhnte als »HOHOHOHOHO« aus ihr heraus. Hektisch drückte sie die Hände vor den Mund – und den Zuckerapfel gegen die Stirn. Im selben Moment fielen Schneeflocken. Das erste Mal in diesem Winter. Wie Puderzucker rieselten sie vom Himmel. Fein und dicht. Glöckchen läuteten von irgendwoher. Da fiel der fliegende Schlitten kaum auf, der-
Wanda zuckte zurück.
Da flog ein Schlitten! Gezogen von Rentieren. Und Wandas Füße, die hoben ab. Ihr Sack und die Rute schwebten voraus in den Schlitten. Nur ihre Kekseinkäufe musste sie an sich drücken, um sie nicht zu verlieren.
Von unten erklang ein Schrei.
»Seh ich richtig? Das hab ich mir schon immer gewünscht!« Um besser zu sehen, krabbelte die Frau vom Kerzenstand auf ihren Tresen und riss die halbe Deko herunter.
Das Kreischen und die verblüfften »Oh!«s verfolgten die schwebende Wanda-Weihnachtsmann, bis sie mit dem Po im weichsten Polster der Welt landete. Im Schlitten war es warm, trotz des fehlenden Dachs. Die Rentiere rochen nach frischem Plätzchenteig.
Jetzt bin ich halt der Weihnachtsmann, dachte Wanda und hielt die Öffnung ihres Geschenksackes über den Schlitten und flog eine Runde über den Markt. Doch der Sack wurde nur praller und praller. Wanda fühlte die wachsende Kraft in sich, je mehr Menschen zu ihr aufsahen. Und sie glaubten. Ihren Augen. Dem Schnee in ihren Haaren. Den Geschenken in den Händen.
Wandas Herz versprühte eine Freude und Lebendigkeit, die sie ganz benommen machte. Sie klemmte den Sack hinten an den Schlitten und flog los. Weiter und schneller als jedes Flugzeug. Von einer Weihnachtsfeierlichkeit zur nächsten.
Wanda. Flog. Um. Die. Gesamte. Welt.
Als sie am 25. Dezember zurückkehrte, war sie ganz leicht und schwach. Man könnte fast sagen, sie war ein Geist, ein Nebel, der ungesehen von allen durch ihr angekipptes Badfenster heimkehrte. Erst dort wurde sie wieder sie selbst. Sie war froh zurückzusein. In ihrem eigenen Körper. Und überrascht, dass er sich nicht unentwegt verformte wie die beiden letzten Jahre nach Weihnachten, in denen sie als unförmiger fleischiger Blob durch ihre Wohnung rollte.
Hätten sich Teile ihres Lesekreises damals nicht unangemeldet in ihr Wohnzimmer materialisiert, wären diese undankbaren Biester niemals auf die Idee gekommen Wandas Kekse wegzuessen.
Sie tastete ihre Schultern nach dem Einkaufsbeutel ab.
Weg.
Er war weg!
Als sie sich im Kreis drehte, bemerkte sie, dass ihre volle Tasche, an der Süßigkeitenschublade hing. Und ein riesiges Geschenk lag auf der Fensterbank. Auf dem giftgrünen Papier war gebratener Schinken aufgedruckt. An der schrillen pinken Schleife baumelte ein Schild.
»He Wanda, altes Haus«, stand darauf. »Warst du das mit dem Schlitten? Die funkelnden Kondensstreifen waren cool! Wir hoffen, du bist kein Blob und bis demnächst. Deine Superheldenfreunde von nebenan.«
»Nebenan«, murmelte Wanda kopfschüttelnd und legte das Schild beiseite. Nebenan schloss halb Europa mit ein.
Sie setzte sich neben das Geschenk und öffnete es.
Mehr Lieblingskekse! Ein Vorrat, der bis ins Frühjahr reichte.
Selig mit sich und der Welt kochte sie sich Tee, drehte leise Schlager auf und setzte sich ans Fenster. Sonst saß Wanda dort nur, nachdem sie ihre Nachbarn mit Popmusik überzeugte, sie wäre eine verzogene Zwanzigjährige ohne Anstand und Musikgeschmack.
Sie hatte genug davon anderen etwas vorzumachen! Wanda zog die Vorhänge zurück und zeigte der Nachbarschaft ihre wahre Gestalt: eine alte Frau, die gegen die Scheibe hauchte, Kekse naschte und voller Vorfreude ... einen Osterhasen ans Glas malte.
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